Sie liest sich fast wie ein Märchen: die Gründungsgeschichte des E/E (Elektrik- und Elektronik)-Competence Centers von thyssenkrupp in Budapest. Vor einem Vierteljahrhundert, im Frühjahr 1998 wurden drei Doktoranden der Technischen und Wirtschaftswissenschaftlichen Universität Budapest dem Lenkungsgeschäft von thyssenkrupp beauftragt, Servo-Algorithmen und Sicherheitsfunktionen für elektrische Lenkungen zu programmieren. Die Verbindung zwischen dem Automobilzulieferer und der Hochschule war über persönliche Kontakte zustande gekommen. Elektrische Servolenkungen fanden sich zu diesem Zeitpunkt noch nicht im Portfolio des Lenkungsspezialisten aus Liechtenstein – und im damaligen Krupp-Konzern steckte Ende der 1990er Jahre die Software-Entwicklung noch in den Kinderschuhen. So startete schon wenige Wochen später die Zusammenarbeit der Studenten mit den Kolleg:innen aus Eschen. Bereits im Dezember nahm der erste Prototyp in einem Versuchsfahrzeug seine Arbeit auf. Als Steuergerät diente ein modifizierter Desktop-Computer, das Lenkrad ließ sich mit der Maus bewegen.
Das erste Projekt verlief so vielversprechend, dass die Universität schon 1999 ein Forschungs- und Entwicklungsinstitut für elektrische Lenksysteme (EPS) gründete. Fünf Jahre später präsentierten die Entwickler:innen eine Lenkung mit eigenem Steuergerät (ECU) und implementierten erste Prozesse für die professionelle Softwareentwicklung. 2007 stießen die inzwischen 70 hochqualifizierten Institutsbeschäftigten als Mitarbeitende zum neugegründeten Kompetenzzentrum von thyssenkrupp in Ungarn. Schon drei Jahre später lief die Serienproduktion für die elektrische Servolenkung des BMW X3 an.
Für Marc de Bastos Eckstein, CEO des Autogeschäfts von thyssenkrupp in Ungarn, ist die Gründung als Forschungsinstitut auch heute noch wichtig für das Selbstverständnis des Unternehmens: „Wir sind nicht als günstiger Montagestandort in Osteuropa entstanden, sondern weil wir Kompetenzen aufbauten, die es anderswo im Konzern nicht gab.“ Um den Charakter als „Brain-Center“ zu erhalten, genießt die enge Zusammenarbeit mit der Universität in Budapest höchste Priorität: Es gibt Kooperationsverträge über gemeinsame Forschungsarbeiten und Fortbildungsaktivitäten rund um automobile Systeme, Vorlesungsreihen sowie eine Unterstützung bei Diplomarbeiten und Praxisplätzen. Ähnliche Vereinbarungen bestehen auch mit den Universitäten in Debrecen und Veszprém.
Nur auf Basis dieses Knowhows konnten Highlights wie eine eigene EPS-Steuergeräte-Software, einschließlich eigener AUTOSAR-Basis-Software entwickelt werden – ebenso wie ein proprietäres EPS-ECU-Hardware-Design. Dazu kommen jedes Jahr neue Patente für modernste Technologien, unter anderem für fehlertolerante, redundante Lenksysteme mit einer Ausfallrate von 10 FIT (Failures in time) – was bedeutet, dass in 100 Millionen Arbeitsstunden maximal ein sicherheitsrelevanter Fehler auftritt. Patente bestehen ebenfalls für Maßnahmen zur Cybersecurity sowie für Over-The-Air Updates.
Heute ist der Standort Budapest mit seinen über 1.200 Mitarbeiter:innen im E/E-Entwicklungszentrum für Software und Hardware einmalig im thyssenkrupp-Konzern. Und hochdekoriert dazu: 2016 als „Unternehmen des Jahres“ in Ungarn ausgezeichnet, 2019 als „R&D Investor of the Year“. Die Ende 2021 neu bezogenen Räume im South Buda Business Park erhielten für ihre moderne und mitarbeiterfreundliche Gestaltung das Prädikat „Büro des Jahres“. Aus der Keimzelle des Startup-Trios hat sich innerhalb von 24 Jahren ein Netzwerk mit sieben Standorten entwickelt, das in Forschung und Produktion mehr als 2.800 Mitarbeiter:innen beschäftigt.
„Mehr als 15 Millionen Fahrzeuge sind inzwischen mit EPS-Lenkungen unterwegs, deren Software von uns stammt“, verweist Eckstein auf die Erfolge des E/E Competence Centers in Ungarn. „Aktuell beschäftigen wir uns mit Zukunftstechnologien wie Steer-by-Wire sowie Technologien für das Autonome Fahren. Außerdem engagieren wir uns stark beim Virtual Testing, um unsere Entwicklungsprozesse noch mehr zu beschleunigen.“
Die enge Verzahnung mit thyssenkrupp Steering gehört zum Alltag. In Eschen ist die direkte Schnittstelle zum Kunden und dort kristallisieren sich – in Zusammenarbeit mit den OEMs – die Trends heraus, die in Budapest in Code übersetzt werden. Marc Eckstein: „Nirgendwo im Auto ist die Interaktion zwischen Menschen und Maschine so ausgeprägt wie bei der Lenkung. Als die ersten EPS-Systeme aufkamen, sollten sie sich vor allem wie ein hydraulisches System anfühlen. Heute haben wir die Chance, das Lenkgefühl der nächsten Generation völlig neu zu gestalten. Mit Steer-by-Wire lässt sich ein beliebiges Lenkgefühl ohne Einschränkung durch die mechanische Verbindung erzeugen. Die OEMs definieren, was sie den Fahrer spüren lassen wollen. Unser Lenkgefühl-SW-Stack stellt ein so breites Spektrum der Abstimmung zur Verfügung, dass wir praktisch jedes markenspezifische Lenkgefühl implementieren können.“
Dabei dürften sich die Anforderungen an die Lenkung schon bald erneut verändern: Denn bereits in Fahrzeugen mit teilautonomen Level-3-Funktionen sinkt die Bedeutung des Lenkerlebnisses. Marc Eckstein: „Bei Level 4-Fahrzeugen wird nicht mehr das Gefühl, sondern das Ergebnis entscheidend sein. Nutzer:innen von autonomen Fahrzeugen legen keinen Wert darauf, selbst zu fahren – etwa, weil sie anderes zu tun haben, weil sie müde sind, oder weil sie vielleicht den Fahrkünsten des Fahrzeugs mehr vertrauen als ihren eigenen. Sie wollen vom Lenken vor allem möglichst wenig mitbekommen. Aber natürlich wird es auch weiterhin Menschen geben, die gerne aus Freude am Fahren selber lenken und wir auf das richtige Fahrgefühl achten müssen, damit das Autofahren genauso viel Spaß machen kann wie heute.“
An die Software stellt das autonome Fahren besondere Anforderungen. So gilt es, das Steer-by-wire mit dem präzisen Integritätsniveau an Sicherheit zu entwickeln und die optimalen Redundanzen festzulegen, um die Steuerbarkeit des Fahrzeugs unter allen Umständen zu gewährleisten. Dabei kann die Lenkung in Notsituationen auch durch andere Funktionen wie etwa Torque Vectoring der Bremsen oder Motoren ersetzt werden. Doch das hört bei der Lenkung nicht auf: Im Rahmen von kompletten Vehicle Motion Control-Systemen werden Redundanzen über die Steuerung aller Fahrzeugbewegungen um die Längs-, Quer- und Hochachse einbezogen. Das umfasst auch Komponenten wie elektrische Bremssysteme, das Fahrwerk mit Feder- und Dämpfersystemen sowie mitlenkende Hinterachsen.
Auch die Elektrifizierung hat unmittelbare Auswirkungen auf Trends bei elektrischen Lenksystemen. Weil auch die Vorderachslast der Fahrzeuge stark zunimmt, müssen immer leistungsfähigere EPS-Systeme in Aktion treten. Gleichzeitig wirkt sich die Energieeffizienz des Systems direkt auf die Reichweite des Fahrzeugs aus, weshalb die OEMs diesem Aspekt besonders viel Aufmerksamkeit widmen. Schließlich liegt auch auf der Geräuschreduzierung ein stärkerer Fokus als bei Fahrzeugen mit Verbrennungsmotoren, da andere Geräuschquellen wegfallen.
Ebenso stellt die rasante Entwicklung neuer E/E-Architekturen eine Herausforderung dar. Dabei geht es um schnellere Kommunikationsprotokolle mit größerer Bandbreite, die Organisation von Funktionsschnittstellen oder darum, die priorisierten Fahrzeugfunktionen mit dem richtigen Niveau an integrierter Sicherheit zu realisieren. Aber auch die Frage, wie sich Over-the-Air-Funktionen mit der Anforderung nach maximaler Cybersecurity vertragen, müssen die Entwickler beantworten.
Nach knapp einem Vierteljahrhundert sind die Trends der Zukunft fest im Tagesgeschäft des Competence Centers verankert: Der Wandel hin zur agilen Softwareentwicklung läuft bereits in vollen Zügen. Vorteil: Während Updates in traditionellen Entwicklungsprozessen nur alle zwei bis drei Monate zum Testen freigegeben wurden, geschieht dies in Pilotprojekten nun im 14-tägigen Rhythmus. József Varga, Leiter des Project Management Offices: „Damit haben wir frühzeitig einen Entwicklungsprozess aufgesetzt, den jetzt immer mehr Kunden einfordern“.
Ziel der agilen Methode ist es, dem Kunden so früh wie möglich eine zwar noch nicht fertig entwickelte, aber betriebsbereite Software zur Verfügung zu stellen, um diese in häufigeren, kürzeren Abständen fortwährend zu optimieren. Vor allem von zwei Voraussetzungen leben die agilen Entwicklungsmethoden: einem hohen interaktiven Kommunikationslevel innerhalb der Entwicklungsteams sowie dem virtuellen Testen. Die ununterbrochen laufenden Simulationen liefern viel schneller Ergebnisse als analoge Prüfstandversuche. Gleichzeitig muss das Mindset aller Team-Mitglieder ein Vorgehen in kleinsten Schritten mit vielen Wiederholungen zulassen – und akzeptieren, dass es keinen klassischen Plan gibt, der die Entwicklung der Software determiniert.
József Varga: „Mit agilen Methoden können wir im Entwicklungsprozess viel schneller auf Anforderungen, die sich während der Validierung ergeben, reagieren. Damit vermeiden wir nicht nur Risiken und Fehlentwicklungen, sondern gewinnen an Geschwindigkeit. Unser Ziel ist es, die agilen Projekte auszuweiten und mit wöchentlichen oder sogar täglichen Deliverables den Output zu erhöhen. Gleichzeitig verbessern wir die Qualität der Software und erkennen frühzeitig Überflüssiges in den verschiedenen Prozessschritten.“ Das Knowhow auf diesem Gebiet hat das Kompetenzzentrum immer wieder auch anderen Bereichen des Konzerns zur Verfügung gestellt und ist auch offen für die Unterstützung anderer Branchen. Dass sich die ungarischen Software-Entwickler:innen diese Rolle in den vergangenen Jahren erarbeiten konnten – darauf sind sie besonders stolz.